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Die Eintagsfliege

 

An einem warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um die Krone eines alten Baumes getanzt, gelebt, geschwebt und sich glücklich gefühlt. Als das kleine Geschöpf einen Augenblick lang in stiller Glückseligkeit auf einem Blatt ausruhte, sprach der Baum: „Arme Kleine! Nur einen Tag währt dein ganzes Leben. Wie kurz das ist. Wie traurig.“ 

„Traurig?“ erwiderte die Eintagsfliege, was meinst du damit? Alles ist so herrlich licht, so warm und schön – ich bin glücklich!“

„Aber nur einen Tag –  und dann ist alles vorbei!“, sagte der Baum.
 
„Vorbei? Was ist vorbei? Bist du auch vorbei?“, wollte die Eintagsfliege wissen.

Der Baum erklärte: „Nein, ich lebe vielleicht Tausende von deinen Tagen und meine Tage sind ganze Jahreszeiten lang. Das ist so lang, dass du es gar nicht ausrechnen kannst!“

„Nein, denn ich verstehe dich nicht!“ sprach die Eintagsfliege. „Du lebst Tausende von meinen Tagen, aber ich habe Tausende von Augenblicken, in denen ich froh und glücklich sein kann. Hört denn alle Herrlichkeit dieser Welt auf, wenn du einmal stirbst?“ 

„Nein“, sagte der Baum, „die währt gewiss länger, unendlich viel länger, als ich denken kann.“

„Aber dann haben wir ja gleich viel“, erwiderte die Eintagsfliege, „es ist nur so, dass wir unterschiedlich rechnen.“


Bildnachweis: Adobe Stock # 629185699 von Karin Jähne